Auf Alis Spuren im Cem-Haus
Vieles trennt Sunniten und Aleviten. Für manche sunnitische Kreise gehören die Aleviten nicht einmal zum Islam. Doch wer einmal an einer religiösen alevitischen Zeremonie teilgenommen hat, kann die vielen Gemeinsamkeiten beider Glaubensrichtungen erkennen. Zu Besuch in einem Cem-Haus in Istanbul.
Von Hüseyin Topel
Eine Seitenstraße im belebten Stadtteil Bahçelievler, der auf der europäischen Seite Istanbuls liegt. Es ist kurz vor 19 Uhr. Das alevitische Gebetshaus befindet sich in im dritten Stock in einem Wohnhaus. Hier findet heute ein Cem, ein alevitischer Gottesdienst, statt. In dem langen Flur spielen Kinder. An den Wänden hängen fünf Portraits: von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed, von Alis Söhnen Hasan und Hussein, dem sufistischen Lehrmeister Haci Bektasch Veli und dem Staatsgründer der modernen Türkei, Atatürk. Atatürk wird von vielen Aleviten besonders verehrt, vor allem deshalb, weil er in der Türkei Religion und Staat voneinander getrennt hatte. Eine Doppeltür führt zum großen Versammlungsraum, aus dem Musik zu hören ist. Savaş Uçan, ein Mitglied der Gemeinde erklärt, was hier stattfindet.
„Cem bedeutet für uns Zusammenkunft der Gemeinde. Wir Aleviten treffen uns dazu, in unseren Cem-Häusern, wo wir in der Regel einmal in der Woche, am Donnerstagabend, zusammenkommen. Das ist unsere Art in der Gemeinschaft Gebete zu sprechen, zu musizieren und unsere religiösen Traditionen zu leben.“
In der Nachfolge des Khalifen Ali bei den Aleviten
Die Aleviten verstehen sich, wie ihr Name schon erkennen lässt, in der religiösen Nachfolge des Khalifen Ali. Sie verehren sein Wissen und die besondere Beziehung zu Mohammed, der einst über Ali folgendes gesagt haben soll: „Ich bin die Festung der Wissenschaft und Ali ist ihr Tor“.
„Ali ist ab dem fünften Lebensjahr bei seinem Cousin, dem Propheten Mohammed, aufgewachsen. Er hat sich ein enormes Wissen angeeignet. Wenn die Leute eine Frage hatten, aber nicht direkt damit zum Propheten gehen wollten, dann sind sie zu Ali gekommen und haben ihn gefragt. Wir Aleviten sehen uns ganz in seiner religiösen Tradition.“
Für den heutigen Abend ist Savaş Uçan von seinem Wohnort Kadiköy nach Bahçelievler gekommen und wechselte dabei sogar den Kontinent, weil er sich in dieser Gemeinde sehr wohl fühlt und deren geistigen Führer besonders schätzt.
„Ich komme, wann immer es mir möglich ist, zum Cem hierher. Das ist für mich schon ein wichtiger Bestandteil in meinem religiösen Leben.“
In dem Raum, in dem die Zeremonie stattfindet, sitzen die meisten Teilnehmer des Cem auf einer niedrigen, sofaähnlichen Sitzbank, die an allen vier Wänden entlang geht. Die übrigen Gemeindemitglieder haben auf Sitzkissen Platz genommen. Der vordere Teil ist für die Männer reserviert, der hintere für die Frauen. Die Atmosphäre ist entspannt, man plaudert miteinander und die Musiker haben wieder zu spielen begonnen.
Dann betritt der Dede den Raum, so wird der geistliche Führer bei den Aleviten genannt. Er hat eine ähnliche Funktion, wie der Imam bei den Sunniten. Nach der alevitischen Tradition soll ein Dede direkter Nachfahre des Propheten Mohammed sein.
„Der Dede dieser Istanbuler Gemeinde, Süleyman Alan, ist ein sehr gelehrter Mann mit einer herausragenden rhetorischen Begabung. Er ist Lehrer für Geschichte und bringt auch sonst die notwendige fachliche Kompetenz für dieses Amt mit. Ich bewundere an ihm besonders, dass er nicht nur redet, sondern uns auch ganz konkret hilft, unsere religiösen Traditionen zu leben. Der Dede muss in einer alevitischen Gemeinschaft immer ein Vorbild sein, dafür verdient er unseren Respekt.“
„Jetzt wecken wir das Licht“
Dede Süleyman nimmt an einem großen Tisch Platz, an dem bereits ein junger Mann, der stellvertretende Dede, sitzt. Die beiden Musiker mit der türkischen Gitarre, der Baglama, haben inzwischen wieder aufgehört zu spielen. Süleyman Dede ergreift das Wort.
„Imam Ali sagte einst: In dieser Welt muss man für seine Taten noch keine Rechenschaft ablegen. Du bist frei! Verleugne Gott, wenn du willst. Du bist frei! Wenn du willst, verleugne auch den Propheten. Du bist frei! Aber später, in der anderen Welt, wirst du dich für deine Taten rechtfertigen müssen!“
Der Dede sagt: „Jetzt wecken wir das Licht“. Damit eröffnet er die Zeremonie:
Savaş Uçan erklärt, was es mit diesem Licht auf sich hat:
„Çerag bedeutet das Licht. Indem wir dieses Licht aufwecken, wie wir sagen, beginnt die Cem-Zeremonie. Wir beziehen uns dabei auf eine Sure aus dem Koran. Dort heißt es ungefähr so: „In den Häusern, in denen Gottes Name erwähnt wird, dort ist auch das Licht“. Genau so soll es auch in unseren Cem-Häusern sein, in denen wir Gottes Namen loben.“
Çerag, das Licht wird symbolisch durch eine Tischlampe dargestellt, an der drei Leuchter nacheinander eingeschaltet werden. Bei jedem dieser Lichter nennt die Gemeinde einen anderen Namen…
„Das erste Licht leuchtet für Gott, das zweite für den Propheten Mohammed und das dritte für Ali. Wir zeigen damit, dass uns die ständige Nähe zu Gott, Mohammed und Ali besonders wichtig ist.“
Das heiligste Ritual der Aleviten beginnt mit einer Sure aus dem Koran. Das zeigt, welche Bedeutung die heilige Schrift des Islams auch bei den Aleviten hat. Der Stellvertreter des Dede trägt nun aus der Sure „das Licht“ die Verse 35. und 36. zunächst auf arabisch, dann noch einmal auf türkisch vor.
Liturgische Unterschiede bei den Aleviten
Auch wenn die Aleviten wie andere Muslime den Koran rezitieren, haben sie dennoch auch ihre Eigenarten, die sich deutlich zum Bespiel vom sunnitischen Islam unterscheiden.
„Also die Sunniten gebrauchen ja am Ende ihrer Gebete in der Regel den hebräischen Begriff Amin, also so wie die Christen auch Amen sagen. Wir Aleviten tun dies nicht, sondern nennen am Ende des Gebets immer den Namen Gottes.“
Während der Zeremonie des Cem kommen auch immer wieder die Musiker zum Einsatz.
„Die Zakir, also die Musiker, haben die Aufgabe beim Cem, die Lieder und die sogenannten Gülbanks, also die religiösen Verse, zu singen und mit der Baglama zu begleiten. Sie sollten deshalb auch eine schöne Stimme haben. Die Musiker sind für den Cem fast genauso wichtig wie der Dede.“
Bevor die Zeremonie zu Ende geht, wird noch ein spiritueller Tanz aufgeführt. Der wird nach bestimmten Regeln von einer Gruppe von Frauen und Männern vorher einstudiert.
„Bei diesem Tanz, dem Semah, treten Männer und Frauen in der Mitte des Versammlungsraums auf und drehen sich im Kreis, dabei bewegen sie nach einem bestimmten Rhythmus die Hände manchmal nach oben und dann wieder nach unten. Das soll zum Beispiel symbolisieren, dass alles von oben nach unten, also von Gott zu den Menschen kommt.“
Zum Schluss der Zeremonie wird jedem Teilnehmer ein Schluck Wasser gereicht. Damit erinnert man daran, dass einst bei der Schlacht von Kerbala Hussein mit seinen Anhängern in der Wüste ohne Wasser aushalten musste, bevor man ihn ermordet hat. Die gesamte Cem-Zeremonie endet dann mit einem gemeinsamen Bittgebet.
Erschienen im :Deutschlandfunk
Podcast: Play in new window | Download