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DLF-Feature: Mevlüde Genç – Die Frau, die nicht hassen wollte

Im Mai 1993 verübten Rechtsextreme einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen. Fünf Menschen starben, 17 wurden schwer verletzt. Mevlüde Genç verlor Töchter und Enkelinnen. Trotz des Verlusts setzt sie sich für Versöhnung ein. (Erschienen im DLF)

von Hüseyin Topel

Junge Türkinnen und Türken haben sich Anfang der 60er Jahre, meistens aus wirtschaftlichen Gründen dafür entschieden, die Türkei zu verlassen. Doch auch gesellschaftliche Probleme, wie die Blutrache, führten mit Gewissheit dazu, dass sich Hunderttausende Türken auf das Gastarbeiteranwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei bewarben. Zunächst kamen überwiegend Männer nach Deutschland. Doch spätestens mit der Möglichkeit des Familiennachzugs folgten dann auch immer mehr Frauen und Kinder aus Anatolien nach hierher. Eine unter ihnen war Mevlüde Genç, (wo ist sie geboren, wie groß war die Familie, als sie nach Deutschland zog?) die in Solingen in Nordrhein-Westfalen mit ihrer Familie ein neues Zuhause fand. Was die Familie Genç nicht erahnen konnte, war, dass Solingen zum Synonym für rassistische Gewalt werden würde und dass sich diese Gewalt gegen ihre Familie richten würde.Ein näherer Blick offenbart, dass Mevlüde Genç und Hunderttausende andere türkische Frauen, eine wichtige Rolle in der Geschichte von Türkeistämmigen in Deutschland gespielt haben. Während in der Regel die Männer in der Fabrik oder unter Tage arbeiteten, sorgten sie sich um die Erziehung der Kinder und waren für den Zusammenhalt der Familie verantwortlich. Doch was zeichnet diese Frauen aus? Bülent Uçar, Leiter des Institut Islamische Theologie an der Universität Osnabrück, versucht einen Erklärungsansatz. Man müsse bedenken,…

“…, dass die Menschen dieser Generation kaum fähig gewesen sind, sich intellektuell auszudrücken, weder in der deutschen noch in der türkischen Sprache. Und daher ist auch ihre Sprache sowie ihr Glaube sehr stark von einer gewissen Schlichtheit geprägt.”

Aber diese Schlichtheit bedeute keinesfalls, dass es sich bei ihnen um oberflächliche Menschen handele.

“Im Gegenteil, ich glaube, dass in dieser Einfachheit des Ausdrucks auch eine gewisse Tiefe vorhanden ist, die wir in der Komplexität momentan noch nicht ganz erfassen, weil unsere Generation ein ganz anderes Verständnis vom Islam und vom Glauben hat, der sehr stark rational und sehr stark auch intellektuell akademisch geprägt ist. Wenn man sich die konkrete Lebensweise dieser Personen anschaut, beispielsweise von Mevlüde Genç, ich meine, es ist eines der schlimmsten Erfahrungen, die einem Menschen widerfahren kann, sein Kind zu verlieren. Aber wenn wir uns anschauen, wie Mevlüde Genc mit dieser Situation umgegangen ist, dann sehen wir eine Person, die enorm stark ist, die sehr, sehr über den Dingen steht, sehr reflektiert ist.”

Tagesschau Archiv
“Guten Abend meine Damen und Herren, sechs Monate nach den Morden von Mölln sind jetzt in Solingen fünf Menschen umgebracht worden. Sie wurden das Opfer von ausländerfeindlichen Mordbrennern. Die unbekannten Täter zündeten in der Nacht ein Mehrfamilienhaus an. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Bei den Opfern handelt es sich um zwei türkische Frauen und drei Mädchen im Alter von 4 bis 13 Jahren.”

“An diesem Tag 93 war mein Mann in der Fabrik. Er hatte Nachtschicht. Von 10 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Wir waren alle zusammen daheim, es war eine fröhliche Stimmung. Der nächste Tag war ein islamischer Feiertag. Wir haben gemeinsam gegessen und getrunken, ich habe den Kindern ihre Geschenke vorbereitet.”

So erinnerte sich einst die Ende Oktober 2022 verstorbene Mevlüde Genç an die Nacht, an dem ihre Welt zerbrechen sollte. Sie war eine schlichte Frau aus Anatolien, die den Islam praktizierte, die damit verbundenen Pflichten erfüllte, wie beispielsweise das fünfmalige Gebet.

“Ich habe an jenem Tag mein letztes Tagesgebet aufgeschoben. Eigentlich mache ich das nie und lege mich erst nach dem Beten schlafen. An diesem Tag dachte ich, stehe ich so um halb zwei für das Gebet nochmal auf.”

So fiel die Mutter nicht ganz in den Tiefschlaf. Als sie allmählich einschlief, betrat plötzlich ihre Schwiegertochter das Schlafzimmer.

“Mutter steh auf, das Haus brennt!”

Ehe sie nach den Kindern schauen konnten, stand das alte Haus komplett in Flammen. 17 Menschen, darunter drei Kinder, erlitten in dieser Nacht zum Teil schwere Verletzungen. Fünf ihrer Familienangehörigen verlor die Familie Genç in den Flammen. Sie heißen:

Gürsün Ince,
Hatice Genç,
Gülüstan Öztürk,
Hülya Genç,
Saime Genç

Das Totengebet wurde nach islamischer Tradition am Tatort verrichtet. Ein Imam trat vor die Särge, hunderte Menschen stellten sich hinter ihm auf.

Ihre Beisetzung erfolgte in der Türkei. Das Land, das sie für eine bessere Zukunft verlassen haben.

“Bin ich dafür nach Deutschland gekommen? Uns ging es lediglich um ein Stück Brot!”

Ihre große Trauer und damit verbundene Formulierungen der Verzweiflung waren für alle nachvollziehbar. Doch ihre versöhnlichen Aufrufe, um die Krawalle auf den Straßen von Solingen zu unterbinden, die aufgebrachte Türken verursachten, haben viele Menschen, sowohl innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, als auch der türkischen Gemeinschaft, überrascht.

“Nach dem Brandanschlag in Solingen war sie es, die aufgestanden ist und gesagt hat, Furchtbares ist passiert. Aber das soll jetzt nicht zwischen uns stehen. Ich möchte nicht, dass aus dem Tod meiner Familie Feindschaft zwischen unseren Völkern entsteht. Wir wollen Freunde bleiben, trotz allem. Ich verzeihe euch und lasst uns im Gespräch bleiben. So ungefähr. Da hat sie das ja mehrfach gesagt. Und alle waren darüber erstaunt. Ich war nicht sehr erstaunt. Ich habe so etwas erwartet.”

Lale Akgün stand unmittelbar nach dem Brandanschlag als Psychotherapeutin an der Seite der Familie Genç. So hatte sie die Gelegenheit, Mevlüde Genç ganz persönlich kennenzulernen.

“Für die meisten in der Mehrheitsgesellschaft war das eine unglaubliche Aussage. Man hätte erwartet, dass die resolute Dame mit Kopftuch dann anfängt, wie ein Rohrspatz zu schimpfen oder in ihrer Trauer aufgeht. Immerhin hatte sie ja Kinder und Enkel und eine Nichte verloren. Dass sie in dem Moment für Frieden appelliert, für Austausch, für Kontakt, das war deswegen für die Mehrheitsgesellschaft so umwerfend, weil sie mit so einer reifen Reaktion nicht gerechnet haben. Man traute einer Frau aus Anatolien diese reife Haltung nicht zu.”

Ihre Reaktion habe mehrere Gründe, beobachtet Akgün. Zum einen liegt das daran, dass die Familie Genç aus einer Stadt kommt, unweit vom Schwarzen Meer.

“Und eben auch als die Frau aus der Schwarzmeerregion, die eben um die Kultur der Blutrache weiß und weiß, wie elend das ist und gerade eben so viele Familienmitglieder verloren hat, hat sie es als ihre Aufgabe gesehen zu sagen “Bloß keine Blutrache, bloß keine Rache nehmen für die Toten!”

Zu ihrer Handlungsweise gehörte auch, dass sie eine Frau war…

“…, die in der Familie das Sagen hatte. Also statt pater familias, mater familias. Sie kam aus der anatolischen Kultur, in der die Frauen die Aufgabe haben, die Familie zusammenzuhalten und dafür zu sorgen, dass es der Familie gut geht.”

Zudem wurde in Anatolien über Jahrhunderte das Islamverständnis durch die Mütter tradiert. Dieses Islamverständnis war nicht rational durchdacht und auch nicht intellektuell, vielleicht nicht in jedem Detail plausibel, so der Theologe Bülent Uçar.

“Aber sie war in erster Linie human und menschlich. Und das Verständnis und auch die entsprechende Umsetzung, also sowohl die Rezeption als auch die konkrete Praxis des Islams bei diesen Frauen, war von ihrer Lebenswirklichkeit geprägt, von Humanität, von Liebe und Barmherzigkeit getragen. Und das, was wir bei Mevlüde Genç paradigmatisch sehen können, ist, dass sie das, was sie von den Generationen vor sich übermittelt bekommen hat, auch in ihrem Auftreten, in der Ruhe, die sie ausgestrahlt hat, aber auch in der inhaltlichen Botschaft, in der Art und Weise, wie sie sich positioniert hat an die nachkommende Gesellschaft, an die nachkommende Generationen weitergetragen hat.”

“Und jedes Mal, wenn man sie getroffen hat, hat man ihren Schmerz ja gleichzeitig auch gespürt. Aber sie hat nie ihre Herzlichkeit oder Menschlichkeit oder den Glauben an Menschen dadurch verloren. Und das hat sie dir halt eben auch vermittelt. Und damit war sie halt für uns alle ein extrem großes Vorbild.”

Erzählt Serap Güler, Bundestagsabgeordnete für die CDU. Als ehemalige Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen, hat Serap Güler miterlebt, wie die staatliche Auszeichnung einer “Mevlüde Genç Medaille” ins Leben gerufen wurde. Jährlich wird sie an herausragende gesellschaftliche und verbindende Leistungen ausgegeben.

“Und es war immer diese sehr herzliche, offene Art, was ja letztendlich am Ende auch zu dieser Medaille geführt hat. Ihre komplette Art, wie sie war. Und wo man ja denkt, dass jemand, der ja, der diese Erfahrung gemacht hat, eigentlich verbittert ist.”

Die Worte von Mevlüde Genç während des Gerichtsprozesses gingen in die Geschichte ein.

„Obwohl ich fünf Kinder und mein Zuhause verloren habe, bezeuge ich trotzdem Zuneigung. Wir sind alle Brüder. Das lässt sich auch durch Verbrennen und Kaputtmachen nicht verhindern“.

Diese herausragende Botschaft verkörperte Mevlüde Genç bis ans Ende ihrer Tage. Viele Deutsch-Türken erinnert Mevlüde Genç an die eigene Mutter, oder Großmutter. So beispielsweise auch Serap Güler. Sie selbst sei zwar immer Papa-Kind gewesen.

“Weil Papa hat halt nie nein gesagt. Aber meine Mama hat halt vieles vorbereitet, was später irgendwo Früchte getragen hat. Also ich bin sehr froh, dass das ganze Thema Erziehung und Bildung eher in Regie meiner Mutter gelaufen ist, als in Regie meines Vaters.”

Wie so viele anatolische Frauen, hatte auch ihre Mutter kein einfaches Leben in der türkischen Heimat.

“Ich habe eine Mutter, die selbst in den 60er Jahren von ihrem Vater zwangsverheiratet wurde und also gegen ihren Willen mit jemandem, weil er aus einer gutsituierten Familie kam, damit es die Tochter besser hat.”

Als Serap Gülers Mutter verheiratet wurde, war sie gerade einmal 18 Jahre alt. Als sie geschieden war, war sie 19 und hatte einen Sohn. Ausgehend von dieser Erfahrung, habe ihre Mutter ihr stets vermittelt…

“Du musst als Frau unabhängig sein, du darfst nie dich irgendwie jetzt auf einen Mann verlassen!”, im Sinne von finanziell von einem Mann abhängig sein, sondern wirklich unabhängig. Und du musst selbst auf eigenen Beinen stehen.”

Auch in der Religiosität habe Güler viel von ihren Eltern gelernt. Sie habe zwar nicht in die Moschee gemusst,…

“…sondern tatsächlich diese Wertevermittlung über religiöse Geschichten einfach auch. Bei uns war das, was meinen Bruder und mich betrifft, wirklich dieses Gerechtigkeitsempfinden, ja, der Sinn für Gerechtigkeit, wirklich sehr stark auch mit religiösen Geschichten über den Propheten, über andere wichtige Bezugspersonen.”

Diese Schilderung von Serap Güler deckt sich mit den Beobachtungen des islamischen Theologen Bülent Uçar.

“Viele der Frauen von der ersten Generation der Muslime in Deutschland waren des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Sie konnten teilweise nicht einmal eigenhändig signieren. Aber diese Menschen verkörperten eine solche spirituelle Tiefe, eine religiöse Frömmigkeit, die vollkommen sich von dem unterscheidet, was wir heute beispielsweise im Kontext des Salafismus, des Islamismus, des religiösen Extremismus von bestimmten jungen Predigern vermittelt bekommen. Diese Menschen waren sehr unauffällig in ihrer Art und Weise. In ihrer religiösen Praxis, aber zugleich in dem, was sie verkörpern, vermittelten sie eine enorme Glaubensintensität, eine beachtenswerte spirituelle Tiefe, die heute leider vielen von uns, bei vielen von uns nicht mehr in dieser Form existent sind.”

Wenn diese Einfachheit im Glauben abhanden kommt, so Uçar, würden gewisse Weltanschauungen versuchen, diese fehlende spirituelle Tiefe durch Etiketten und Propaganda zu ersetzen.

“Die heutige Form des religiösen Extremismus entkernt im Grunde genommen die Religion, weil sie die spirituelle Dimension des Glaubens nicht mehr ernst nimmt und Religion sehr stark auf bestimmte Formen, auf bestimmte Riten reduziert. Und das war in den vorangegangenen Generationen von Menschen, vor allem auch von Menschen, die aus Anatolien, von Frauen, die aus Anatolien hierhergekommen sind, ganz anders.”

Auch Lale Akgün beobachtet, wie die Religion zunehmend instrumentalisiert wird.

“Was mir ein bisschen Sorge macht, ist eben der starke Einfluss des politischen Islams, gerade aus der Türkei auf diejenigen, die halt eher bildungsfern geblieben sind und wo versucht wird, mit einer Ideologie sie immer noch in bestimmten Grenzen zu halten, sie auf die Türkei einzuschwören, auf den Islam einzuschwören und dadurch ihnen die Möglichkeit genommen wird, sich persönlich und gesellschaftlich zu entwickeln.”

Im Sinne des türkischen Familienbildes spricht Bülent Uçar davon, dass diese anatolischen Mütter, wie Mevlüde Genç etwa eine war, die Integration der Türkei-stämmigen Menschen in diese Gesellschaft maßgeblich gefördert haben.

“Es gibt sehr, sehr viele Familien, gerade unter türkischstämmigen Musliminnen und Muslimen, wo das Oberhaupt der Familie faktisch die Frau ist. Und daher darf man die Rolle von Frauen in den Familien nicht unterschätzen und gleichzeitig die Rolle von Männern überschätzen. Und deshalb ist es, glaube ich, nicht gewagt zu sagen, dass die heutige Generation der türkischstämmigen Muslime in Deutschland, der Deutschtürken, im Grunde genommen das Produkt der Mütter ist.”

Diesem Gedanken stimmt Lale Akgün gerne zu.

“Gute Integration hat sehr viel mit der Rolle der Mutter zu tun. Diejenigen Familien, wo die Väter gewalttätig waren, wo die Mütter schwach waren. Diese Kinder waren viel weniger erfolgreich als die anderen Familien, wo eben die Mutter dafür gesorgt hat, dass Prioritäten gesetzt wurden und Prioritäten waren für die Frauen, die Kinder.”

Das zeige, wer eigentlich die Macher in den türkischen Familien gewesen sind. Und eben wegen dem gesellschaftlichen Druck auf Frauen…

“…haben sie es doch gelernt, mit Konflikten umzugehen. Sie wissen, wie man Konflikte löst. Während ich oft erlebt habe in meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin, dass Männer immer mit dem Kopf durch die Wand wollten, haben die Frauen die Tür gesucht, um rauszukommen, andere Wege gesucht, wie man mit den Sachen fertig werden kann?”

Bemessen an ihren Handlungssträngen, war Mevlüde Genç aufgrund ihrer besonderen Rolle als Friedensbotschafterin eine Ausnahme-Persönlichkeit, und zugleich durch ihre Art und Haltung beispielhaft für Hunderte anatolische Mütter in Deutschland.

“Ich glaube, das Mevlüde Genç, ganz ohne dass sie formale Schul- und Hochschulabschlüsse hat, ein Vorbild für die Musliminnen und Muslime in Deutschland darstellt. Und das ist auch eines der Gründe, warum wir als Avicenna Studienwerk, das ist ein Begabtenförderungwerk, wo wir die leistungsfähigsten begabten muslimischen Studierenden Deutschlands mit Mitteln des Bundesforschungsministeriums fördern. Wir vergeben jedes Jahr einen Preis und genau aus diesem Grund, weil wir Mevlüde Genç als ein Vorbild sehen, haben wir als eine akademische Fördereinrichtungen Mevlüde Genc kurz vor ihrem Tod mit einem Preis ausgezeichnet. Im Grunde genommen war das keine Auszeichnung von Mevlüde Genc, sondern es war eine Auszeichnung des Avicenna-Studienwerks. Und ich glaube, dass jeder auf seine eigene Art von dem Leben Mevlüde Gençs etwas für sich mitnehmen kann. Punkt.”