Sufismus
Die singenden Sufis
Im Sufismus, der islamischen Mystik, gibt es verschiedene Richtungen. Die Orden der tanzenden Sufis verehren den persischen Mystiker Rumi als ihren Gründer, die singenden Sufis orientieren sich an der Lehre des berühmten Sufimeisters Haci Bektasch Veli.
„Wenn du für immer im Paradies weilen möchtest, schließe mit jedem Freundschaft und hege gegen niemanden Feindschaft. Sei wie ein Heilmittel und wie eine Kerze, und trage keine Dornen.“
So der Dichter Haci Bektasch Veli. Er rief die Menschen bereits im 13. Jahrhundert trotz gesellschaftlicher und politischer Unruhen zu Toleranz und Liebe auf.
Dazu der Bektaschi-Experte Professor Hüseyin Özcan von der Fatih Universität in Istanbul:
„Es ist unschwer zu erkennen, dass Liebe und Toleranz, die wichtigsten Eckpfeiler der Philosophie bei Haci Bektasch Veli sind. Daran hat sich bei den Anhängern seiner Philosophie bis heute nichts geändert. Liebe und Toleranz unterscheiden nicht zwischen Religion, Sprache und Rasse, sie akzeptieren alle Menschen in gleichem Maße und schweißen sie zusammen.“
Islamische Mystik des Sufismus
Haci Bektasch Veli gehört zweifellos zu den herausragenden Persönlichkeiten des Sufismus. Der Bektaschi-Autor Arhan Kardas:
„Haci Bektasch Veli ist ein muslimischer Mystiker; ein Sufimeister, der ursprünglich aus dem Chorasan kommt. Dem jetzigen Iran, damaligem Turkistan. Es gibt natürlich unterschiedliche Datierungen, aber überwiegende Meinung ist, dass er im Jahre 1210 geboren und ungefähr im Jahre 1270 gestorben ist.“
Haci Bektasch Veli verbindet zwei große Richtungen des Islams miteinander, das Sunnitentum und das Alevitentum. Denn sowohl die Aleviten wie auch die sunnitischen Bektaschigruppen berufen sich auf diesen Sufimeister. Hüseyin Ozcan:
„Das Bektaschitum ist eine vielseitige Kulturtradition, genauer gesagt ein Knäuel aus verschiedenen Kulturen. Es bietet einen reichen Fundus für verschiedenste Wissenschaftszweige von der Soziologie bis hin zur Philosophie.“
Bescheidenheit und innere Werte
Die Bektaschis begegnen dem Leben und der Gesellschaft mit Realismus, Toleranz und Verständnis, das wird auch bei der Zeremonie deutlich, mit der ein Anhänger einem Bektaschi-Orden beitritt.
„Behalte für dich, was du gesehen hast, sprich nicht über Dinge, die du nicht gesehen hast.“
Grundsätzlich gilt, dass sich hinter der Toleranz die Weisheit Gottes verbirgt, so Bektaschi-Autor Arhan Kardas.
„Die Lehre ist eigentlich die Liebe und die Menschenliebe. Der Mensch steht im Zentrum seiner Lehre und interessanter Weise sagt Haci Bektasch Veli, dass das eigentlich die Lehre des Islams ist. Frieden, vor allem! Und Bescheidenheit – das ist ja einer der wichtigsten Tugenden der Bektaschis, und innere Werte.“
Toleranz und Humor
Haci Bektasch Veli versteht seine Lehre als Essenz des Islams. Dazu der Bektaschi-Autor Professor Hüseyin Özcan:
„Ein Bektaschi tritt in einen ehrlichen Dialog mit Gott ein. Was um ihn herum geschieht, nimmt er mit Toleranz und Humor. Für die Bektaschis bedeutet jemandem das Herz zu brechen dasselbe, wie „die Kaaba seines Herzens zu zerstören“. Ihrer Auffassung zufolge muss es Ziel des Menschen sein, sein Ego zu zügeln und seine Wut und Gewaltbereitschaft zu kontrollieren.“
Wörtlich heißt es:
„Derjenige, der angesichts der Fehler anderer Menschen schweigt, verdient Anerkennung. Verhülle die Fehler deiner Mitmenschen. Was du auch suchst, suche es bei dir selbst.“
Innerliches und Äußerliches im Sufismus
Gerade weil der Sufismus besonderen Wert auf die Selbsterkenntnis und eine besondere Innerlichkeit des Glaubens legt, wird bei Sunniten immer wieder der Vorwurf laut, dass die Bektaschigruppen und die Aleviten durch ihre Orientierung an der Lehre des Sufimeisters den Islam verkürzten. Arhan Kardas hält dies für ein Missverständnis, denn es sei „eine Lehre, die vielmehr die ethischen Werte der Religion in den Vordergrund stellt und die Rituale und das Äußerliche den Hintergrund stellt. Weil sie bescheiden sind, möchten sie ihre gottesdienstlichen Handlungen nicht in der Öffentlichkeit vertreten. Aus diesem Grund unterstellten viele Sunniten den Bektaschis, dass sie Pflichtlehren des Islams vernachlässigen, oder überhaupt nicht ausüben, wie zum Beispiel tägliche fünf Gebete, oder das Fasten im Monat Ramadan. Aber das stimmt nicht, weil wir wissen, dass die Bektaschis in ihren Ordenshäusern sowohl die äußerlichen Rituale als auch die innerlichen vertreten haben.“
„Was draußen im Universum existiert, ist auch in deinem Inneren angelegt. Finde die Zeichen der Welt in deinem Inneren, und du findest auch Gott.“
Auch in Deutschland gibt es Vertreter dieser Lehre. Faysal Ilhan ist ein Bektaschi Baba, also der geistliche Leiter eines Bektaschi-Ordenshauses. Er studierte zunächst in Ankara Theaterwissenschaften und Russische Literatur.
„Seit 2006 bin ich ein Bektaschi Baba und führe dieses Ordenshaus. Wir haben keine genaue Anhängerzahl, aber viele Freunde und Sympathisanten, die in das Bektaschitum aufgenommen werden wollen – die sogenannten „Liebenden“. Die Liebenden besuchen dieses Haus, wir teilen mit ihnen unsere Mahlzeiten. Unsere Türen sind für jeden offen.“
Mission von den Bektaschis
Das Bektaschitum kennt keine Mission. Aber Interessierte dürfen jederzeit in das Ordenshaus kommen.
„Ich kümmere um die, die zu uns kommen und sich für unsere Lehre interessieren. Ich kann sie dann irgendwann auch in den engeren Kreis aufnehmen. Jeder kann sich dem Bektaschitum anschließen. Man wird aber nicht von heute auf morgen aufgenommen. In der Regel kann nur eine Person pro Jahr beitreten.“
Wer als neuer Can dem Orden beitreten will, der nimmt dann an einem Aufnahmeritual mit einer Vereidigungszeremonie teil.
„Unsere Rituale und Traditionen sind circa 600 Jahre alt. Bei uns ist es nicht so protokollarisch, man kann so oft kommen, wie man möchte. In der Regel jedoch treffen wir uns einmal im Monat. Wir unterscheiden nicht zwischen Mann und Frau. Bei uns sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Warum sollte das nicht möglich sein? Auch am Heiligtum in Mekka, bei der Kaaba, kommen doch beide Geschlechter zusammen. Aber das wird leider in der breiten muslimischen Gesellschaft nicht so sehr toleriert.“
Viele Bektaschis sind davon überzeugt, dass die Lehre des Haci Bektasch Veli auch dazu beitragen könnte, die bestehenden Spannungen zwischen Sunniten und Aleviten zu überwinden. Dazu Arhan Kardas:
„Der sunnitische Islam in Anatolien ist sehr alevitisch geprägt, und der alevitische Islam ist auch sehr sunnitisch geprägt. Das heißt, in den ersten Jahren der islamischen Entwicklung waren eigentlich die beiden Lehren einander sehr nah.“
Liebe säen
Gestört wurde das Verhältnis zwischen diesen beiden Richtungen durch einen Konflikt im 16. Jahrhundert zwischen dem Osmanischen Reich und dem persischen Safawiten-König. Der osmanische Sultan hat damals um Anatolien, wo traditionell viele Aleviten lebten, einen Krieg geführt.
„Sultan Selim der Zweite hat das militärisch bekämpft. Aber bei diesem Kampf ist er auch den Aleviten gegenüber sehr brutal vorgegangen. Leider hat er 40.000 Aleviten in Konya ermordet. Aufgrund dieser Massaker haben sich die Aleviten in die Dörfer und die Berge zurückgezogen.“
Von da an lebten Aleviten und Sunniten in einem gespannten Verhältnis. Zeitweise wurde sogar das Bektaschitum verboten. Hüseyin Özcan:
„Die Tatsache, dass Aleviten und Sunniten eine lange gemeinsame Geschichte haben, darf nicht in Vergessenheit geraten. Sie waren immer und sind auch noch heute Angehörige derselben Gesellschaft. Sie bewohnen in der Türkei das gleiche Land, haben die gleiche Heimat.“
Während Sunniten den Aleviten oft eine Verfälschung des Islams vorwerfen und sich bei Aleviten durch mündliche Überlieferung unterschiedliche Interpretationen der Lehre von Haci Bektasch Veli entwickelt haben, hat man nun die wenigen schriftlichen Quellen des Sufimeisters gesammelt und neu herausgegeben. Der Bektaschi-Experte Professor Hüseyin Özcan:
„Unser Wunsch ist es, dass Aleviten und Sunniten Haci Bektasch Veli in Zukunft aus verifizierten Quellen kennenlernen können. Dadurch ließe sich die Flut falscher Informationen eindämmen, und Vorbehalte und Vorurteile können abgebaut werden.“
„Säe Liebe, damit du Liebe ernten kannst! Was dir selbst schwerfällt, verlange auch von niemand anderem.“
Erschienen im Deutschlandfunk:
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