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Erdbeben Türkei Trümmer

Erdbeben in der Türkei ist (k)ein Schicksal

In der Türkei und Syrien haben sich am 6. Februar zwei verheerende Erdbeben ereignet. Die Erdstöße im Grenzgebiet haben eine der verheerendsten Naturkatastrophen ausgelöst, die sich bisher in dieser Region ereignet haben. Nach bestätigten Zahlen liegen die Todesopfer bereits bei mehr als 40.000. Experten gehen gegenwärtig davon aus, dass die Gesamtzahl der Toten auf über 100.000 steigen könnte. Noch immer werden Tausende Menschen vermisst. Derweil haben die Räumarbeiten von eingestürzten Gebäuden begonnen. Ungeachtet der Tatsache, dass zwar immer weniger, aber dennoch Menschen lebend geborgen werden könnten. Diese Katastrophe hat eine weitere Diskussion entfacht. Schicksal. Wie der Begriff durch die Politik ausgenutzt wird, thematisiert Hüseyin Topel.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan meldete sich unmittelbar nach dem Erdbeben mit einer Botschaft aus der Zentrale des Katastrophenschutzes AFAD in Ankara. Danach tauchte er ab. Erst 3 Tage nach der Katastrophe war Erdogan im Krisengebiet und räumte “gewisse Schwierigkeiten” am ersten Tag ein. Auf Kritik reagierte Erdogan scharf. Und außerdem:

“Auf eine Katastrophe in diesem Umfang kann man nicht vorbereitet sein.”

Dabei warnen Experten seit Jahren vergeblich vor einem neuen Erdbeben in dieser Region. Der 76-jährige Geologieprofessor Naci Görür beispielsweise sprach 3 Jahre zuvor sogar vor einem potentiellen Doppel-Erdbeben und hatte auf tragische Weise recht. Heute warnt derselbe Professor über Erdbeben in Istanbul. “1999 haben renommierte Wissenschaftler ein Erdbeben in der Nähe von Istanbul bin in 30 Jahren vorhergesagt. Heute warne ich vor diesem Erdbeben. Denn es sind bereits 23 Jahre vergangen, somit steigt die Wahrscheinlichkeit und der Zeitpunkt ist näher gerückt. Das wäre eine Katastrophe mit deutlich größerem Ausmaß. Es könnte jederzeit passieren.”

Erdbeben ruft Don´t Look Up auf Netflix in Erinnerung

Dieser Prozess erinnert an den NETFLIX-Film “Don´t Look Up” von Leonardo Di Caprio und Jennifer Lawrence. Zwei Wissenschaftler, die die Menschheit vergeblich vor einem nahenden Kometen warnen, aber nicht ernst genommen werden. Am Ende des Films bedeutet dieses Ignorieren wissenschaftlicher Erkenntnisse das Ende der Welt. Erdogan lässt sich indes in seinem Storytelling nicht beirren. “So Gott will” beispielsweise, oder “mit Gottes Hilfe” sind Sprüche, die Erdogan immer wieder verwendet. Nun hat er sein Repertoire um den Schicksalsbegriff erweitert. In Kahramanmaras wurde Erdogan dabei gefilmt, wie er zu einem Erdbebenopfer spricht. “So was passiert immer wieder. Erdbeben sind Teil des Schicksalsplans”, so Erdogan.

Nihat Hatipoglu widerspricht Präsident Erdogan nach Erdbeben

In der Türkei ist es schwierig dem Präsidenten zu widersprechen. Es ist leicht in Ungnade zu fallen. Deshalb hat sich seit Jahren eine Tradition des Schweigens etabliert. Doch mit dem Erdbeben hat sich das ein wenig verändert. Persönlichkeiten aus Forschung und Medien äußern fordern Konsequenzen. Besonders unerwartet war der Vorstoß des Theologen Nihat Hatipoglu, der im Fernsehen Erdogan widerspricht: “Was Wissenschaftler und Experten sagen sind für uns eine Art religiöse Pflicht. Auf diese Experten müssen wir hören. Wenn wir Katastrophen erlebt habe, weil wir in der Vergangenheit nicht auf diese Leute gehört haben, können wir das nicht als Schicksal bezeichnen. Das ist kein Schicksal. Schicksal ist es, intelligent zu sein. Schicksal ist, Vorkehrungen zu treffen.”

Auch Özgür Uludag, Islamwissenschaftler und Journalist aus Hamburg, stimmt dem zu. Das sei dann Schicksal, „wenn alles Menschen-erdenkliche oder alle Maßnahmen ergriffen wurden, um so etwas grundsätzlich zu vermeiden.”

Verhindern von Baupfusch oberste Priorität

Das wären beispielsweise Maßnahmen wie das Einhalten von Bauvorschriften, das Unterbinden von Baupfusch und Korruption. Und das entspreche dem Islam „insofern, als dass da im Koran mehrere Verse zu finden sind, in denen klar steht, man kann sich nicht vor dem Tod verstecken oder verbergen. Es ist unabwendbar.”

Der Islam formuliert 6 Glaubenspflichten. Der Glaube daran, dass alles Gute, aber auch Schlechte von Gott kommt, ist die sechste Glaubenspflicht. Dies verursache einen nicht ganz leicht aufzulösenden Widerspruch, so Uludag: “Und zwar dahingehend, dass natürlich alles Gute und alles Böse oder alles Schlechte auch von Allah nicht selbst kommt, aber zumindest erschaffen wurde. Nun gibt es aber auch im Koran die vierte Sure, Vers 79, heißt es dann: “Was dich an Gutem befällt, ist von Gott, und was dich an Bösem befällt, ist von dir selbst”. Also man hat auch selbst einen Beitrag an dem, was böse wird.”

Diesseits ist ein Ort der Prüfungen. Auch bei einem Erdbeben

Diese Welt ist in der islamischen Betrachtungsweise ein Ort der Prüfungen. Am Ende dieses Lebens kann man im Jenseits ins Paradies kommen und belohnt werden. Aber auch die Hölle ist eine Option, die man sich verdienen kann. Bezogen auf Erdbeben sei es wichtig, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen “erdbebensicher zu bauen. Dann ist es die Aufgabe des Menschen, erdbebensicher zu bauen, sich zurückzulehnen und zu sagen: “Das ist die Prädestination von Allah, dass diese Häuser einstürzen”, das wäre zu einfach, weil, wenn wir jetzt so eine Analogie herstellen würden und sagen würden: “Okay, wir haben hier einen Menschen, er ist krank und Allah hat uns die Medizin gegeben, um diese Krankheit zu heilen”, dann ist es unsere Vorherbestimmung und auch unsere Aufgabe, diese Medizin zu nutzen, um diesen Menschen zu heilen. Macht man das nicht, dann würde man eben leichtfertig mit dem Leben dieser Menschen umgehen und das wäre nicht im Sinne des Islam.”

Sind Naturkatastrophen immer eine Strafe Gottes?

Ein anderer Ansatz, der Naturkatastrophen ebenfalls mit Schicksal erklärt, spricht von der Strafe Gottes. Dazu der Islamwissenschaftler Uludag: “Dieses Erdbeben als eine Strafe Gottes beschreiben zu wollen, ist eine schrille These. Dann wären andere Erdbeben oder andere Naturkatastrophen, Überflutungen in Pakistan oder meinetwegen Vulkanausbrüche oder ein Tsunami, ist das alles dann automatisch Strafen Gottes oder Allahs in dem Fall?”

 Oft seien solche Strafvorstellungen dazu da, um schwer zu erklärende Ereignisse einzuordnen. “Wenn dann also eine einzige Person, die von einer Familie überlebt hat und da steht und sagt: “Ich habe 27 Familienmitglieder gleichzeitig verloren”… um das begreiflich zu machen, was nicht begreifbar ist, dann tritt eben das Schicksalshafte, also die Vorherbestimmung Allahs in Kraft. Das hat er so vorherbestimmt, das war nicht veränderbar. Für diese, für den Glauben also, um die Trauer zu bewältigen.”

Der Glaube an das Schicksal erleichtert

Der Glaube an das Schicksal sei für Glaubende eine Stütze. So seien auch Bilder aus der Türkei zu deuten, die im Rahmen von Rettungsaktionen entstehen. Dutzende Helferinnen und Helfer rufen nach der Bergung von Lebenden “Allahu Akbar. Also sozusagen Allah preisen, heißt es Allahu akbar. Gott hat diese Menschen gerettet. Er wird nicht dafür verantwortlich gemacht, dass diese Menschen verschüttet hat durch dieses Erdbeben, sondern ermöglicht es einigen Menschen zu überleben. Ich weiß jetzt nicht, ob das alles streng religiöse Menschen sind, oder das eher so ein Ausruf von “Gott sei Dank” oder “Halleluja”, oder? Also eher eine Floskel, weniger ein echtes Glaubensbekenntnis.”

#Antakya #Antep #Adiyaman #Hatay #Kahramanmaras #Osmaniye

Dass Erdbeben passieren, ist aus wissenschaftlicher Perspektive ein Faktum. Aus islamischer Perspektive der Wille Gottes. Der Einsturz von Gebäuden ist jedoch oft auf menschliches Versagen zurückzuführen. Die seit 2002 regierende AKP hatte 2018 als Wahlversprechen ca. 250.000 illegale Bauten, im Zuge einer Amnestie, nachträglich die Baugenehmigung erteilt. Viele dieser Bauten sind in Antakya, Maras, Antep, Osmaniye, Adiyaman und Hatay bei diesem Erdbeben eingestürzt. Dass es auch anders geht, zeigt der Stadtteil Erzin in Hatay. Auch direkt vom Erdbeben betroffen, hat es in diesem Stadtteil allerdings keinen einzigen Einsturz gegeben. “Als Bürgermeister bin ich, soweit es mir möglich war, bei der Einhaltung von Bauvorschriften standhaft geblieben. Sobald ich gewählt war, wurden mir vonseiten der Bevölkerung, aufgrund ihrer Gewohnheiten, Anfragen herangetragen, illegale Bauten zu genehmigen. Baupfusch habe ich nicht gestattet.” erklärt Ökkes Elmasoglu (CHP), Bürgermeister von Erzin. Bei einem schwerwiegenden Erdbeben, wie in der Türkei, gibt es keine Garantien. Doch Statik-Kenntnisse retten leben, religiöse Schicksals-Floskeln nicht.

Erschienen im Deutschlandfunk