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Hagia Sophia – Erdogan macht, die Opposition schaut zu

Heute versammeln sich nach 86 Jahren erstmals wieder Muslime für das Freitagsgebet in der Hagia Sophia. Ein politisches Signal des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, das auch hierzulande angekommen ist.

von Hüseyin Topel

Dass am Freitag von den Minaretten der Hagia Sophia der Muezzin zum Gebet ruft, ist nichts Neues. Dass im einstigen Heiligtum der Christen auch noch gebetet wird, wohl doch. Denn seit 1934 wird die Hagia Sophia nur noch als ein Museum genutzt. Diese “Freundschaftsgeste” an die westliche Welt beschloss Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei. Seine Message war klar: Die säkulare Türkei fordert ihren Platz ein im Westen. Für den Essener Politikwissenschaftler Burak Çopur “eine historische Entscheidung, trotz aller berechtigten Kritik an Atatürk wegen seiner Minderheitenpolitik”. 

Noch immer eifern viele Türken den Idealen ihres Staatsgründers nach. Seine Visionen für eine moderne, laizistische Türkei sind tief in der Bevölkerung verankert. Doch wie in kaum einem anderen Fall, steht eben jener Beschluss Atatürks von Anfang an auf eher wackeligen Beinen. Bis heute wurde hier vielleicht ein wesentlicher Punkt ignoriert. Nämlich dass die türkische Bevölkerung mehrheitlich konservativ ist. 

Und genau diese Mehrheit betrachte die Hagia Sophia als das Sinnbild für die Eroberung Konstantinopels durch den ebenfalls stark verehrten osmanischen Sultan Mehmed den II. Atatürks Beschluss hätte nicht nur “die Profanisierung zur Folge gehabt, sondern auch der islamischen Welt das Wahrzeichen imperialer Macht entrissen.”, erläutert der Historiker Rasim Marz.

Deutsch-Türken traditionell eher konservativ

In Deutschland leben gegenwärtig – die mit der deutschen Staatsbürgerschaft eingeschlossen, rund 3 Millionen Türken mit einem traditionell starken Bezug zum Ursprungsland. Politische Entwicklungen in der Türkei werden intensiv verfolgt. Oft genug ist Deutschland Austragungsort innertürkischer Konflikte.

Gemessen an den Umfragewerten der AKP in der deutsch-türkischen Community, leben in Deutschland sogar noch mehr konservative Wähler als in der Türkei. Zum Vergleich: Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 bekam Erdogan 64,78 Prozent der Stimmen, in der Türkei nur 52,38. Folglich bekam das jüngste Gerichtsurteil über die Hagia Sophia in eben jener Community besonders starken Beifall.

Und was seit Jahrzehnten ein aufdringlicher Wunsch der konservativen türkischen Gesellschaft ist, wird nun durch das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts in der Türkei zur Wirklichkeit.  Türkei Experte Çopur sieht in der Causa Hagia Sophia deshalb eine Art Abrechnung von Islamisten und Nationalisten an dem Erbe des Gründers der türkischen Republik. Bezeichnend sei auch der Eröffnungstag. Denn am 24. Juli 1923 unterzeichnete Atatürk in Lausanne den Gründungsvertrag der Türkei. “Damit wird die kemalistische Republik endgültig zu Grabe getragen und ein Bruch mit dem Westen vollzogen.”, so Burak Çopur weiter. 

Gefühl von Einheit wie nach dem Putschversuch

Als Präsident Erdogan in der Putsch Nacht vom 15. Juli 2016 das Volk zur Verteidigung der Nation auf die Straßen rief, folgten seinem Aufruf auch Oppositionelle. Erdogan gelang, zwar vorübergehend, eine Atmosphäre der Einheit. Ähnliches zeichnet sich bei der Hagia Sophia Thematik ab. Der prominente Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu von der CHP sagte etwa: “In meinem Gewissen ist die Hagia Sophia schon seit 1453 eine Moschee”. Eine weitere CHP Prominenz und ehemaliger Erdogan Herausforderer Muharrem Ince gab in einer Fernsehsendung bekannt, dass er am ersten Freitagsgebet in der Hagia Sophia prinzipiell teilnehmen würde. 

Deshalb geht Burak Çopur mit der Opposition besonders hart ins Gericht. “Die sogenannte türkische Opposition” verfolge die fatale Doppelstrategie der “Entpolarisierung” und die des Abwartens, in dem Irrglauben, dass Erdoğan über seine eigenen Fehler irgendwann selbst stürzen werde. “Auch aufgrund dieser Träumerei und Politiklosigkeit der Opposition ist Erdoğan schon seit fast 20 Jahren an der Macht.”, so Çopur weiter.

Akt der Verteidigung gegen globale Gegenspieler

Laut Rasim Marz befürwortet auch hierzulande die überwiegende Mehrheit der deutsch-türkischen Community die Umstrukturierung der Hagia Sophia. Selbst oppositionelle Nationalisten und Linke würden in dieser Entscheidung einen “Akt der Verteidigung gegen globale Gegenspieler der Türkei” erkennen. 

Ibrahim Vural, Vorsitzender der CHP in NRW bestätigt, dass Mitglieder seiner Partei, mit einer eher konservativ-islamischen Lebenseinstellung, mit der Umfunktionierung der Hagia Sophia in eine Moschee einverstanden sind. Doch Vural sieht diese Gruppe in der Minderheit. Mindestens 80 Prozent seiner Partei würde heute immer noch fest hinter der Entscheidung von Atatürk stehen und den Erhalt des Museums einfordern. Und das, obwohl sehr prominente Führungspersönlichkeiten seiner Partei einen ganz anderen Eindruck erwecken.

Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien in Essen beobachtet in der türkeistämmigen Community in Deutschland eine kontroverse Diskussion zum Thema, in der jedoch die gewohnte politische und gesellschaftliche Trennschärfe nicht sehr stark zum Ausdruck komme. Eine sichtbare Mehrheit für die eine oder andere Seite sei derzeit nicht zu erkennen. Der Integrationsforscher glaubt nicht, dass die Hagia Sophia ganz oben auf der politischen Agenda der Türkeistämmigen in Deutschland steht. Deshalb sieht Aver in diesem Thema zumindest kein besonderes Eskalationspotential für den hiesige Gesellschaft.