Abtrünnige im Islam
Im Sudan, Jemen und Iran sowie in vielen anderen Ländern kann die Abkehr vom Islam noch heute mit dem Tode bestraft werden. Besonders brutal agiert der sogenannte Islamische Staat. IS-Terroristen richten Menschen hin, weil sie anders glauben. Dabei berufen sie sich auf den Islam. Doch wie sieht es mit der Religionsfreiheit im Islam tatsächlich aus?
„Murted bedeutet im Wörterbuch zunächst einmal Umkehrer; und nach islamischem Recht bezeichnet dieser Begriff speziell diejenigen, die aus dem Islam austreten und einen anderen oder gar keinen Glauben annehmen.“
Dieses Phänomen ist auch in anderen Religionen bekannt.
„Das ist nicht nur im Islam so. Das ist ein generelles Problem. Das gab es – in unterschiedlicher Form – auch im Judentum oder im Christentum. Religionsgemeinschaften haben Austreter stets bestraft.“
Dennoch ist dieser Begriff gegenwärtig so aktuell wie nie.
„Das wir diesen Begriff heute um die Ohren geschmissen bekommen, hat damit zu tun, dass der Islam mit Terror in einem Atemzug genannt wird. Das haben wir dem großen Krebsgeschwür, das sich IS nennt zu verdanken. Sie jagen auf der ganzen Welt Angst und Schrecken ein.“
Unislamische Grundhaltung
Die Terroristen des IS entscheiden, wer ein Muslim ist und wer nicht. Sie stellen Fangfragen, um Menschen zu überführen – oder sie zwingen sie, ihre Glaubensvorstellung zu übernehmen. In einem Video, das in den sozialen Netzen in Internet kursiert, ist ein bewaffneter IS Terrorist zu sehen, der am Straßenrand einen syrischen Aleviten nach seinem Glauben fragt. Dann fordert er ihn auf, den sunnitischen Islam anzunehmen. Als er sich weigert, wird er hingerichtet.
„Diese Leute beschuldigen Muslime, dass sie Abtrünnige seien und richten sie nach diesem Blitzurteil hin.“
Der Tod von Abtrünnigen sei nach islamischem Recht legitim und sogar erforderlich, so der IS. Für viele Muslime ist diese Haltung unislamisch, auch wenn der IS sich auf den Koran beruft. Ismet Macit:
„Im Koran wurde für Abtrünnige keine weltliche Strafe festgelegt. Die Befürworter benutzen unterschiedliche Verse aus dem Koran, um ihre Behauptungen zu stützen. Viele Islamgelehrte stimmen diesen Behauptungen nicht zu. So wird beispielsweise in Vers 85 in der Sure Al-i Imran deutlich, dass die Strafe für das Aussteigen aus der Religion nicht in der Welt, sondern im Jenseits erfolgen wird. Die Menschen haben kein Recht darauf, andere zu richten. Für Diebstahl oder Verleumdung – dafür schreibt der Koran weltliche Strafen vor. Diese Straftaten werden im Koran konkret erwähnt. Für Abtrünnige gibt es das so nicht.“
Apostasie als Politikum
Die zweite Quelle, auf die sich Muslime berufen, sind die Sunnah, also die Handlungen des Propheten Mohammed, und dessen Aussagen, die auch als Hadithe bezeichnet werden. Den Überlieferungen nach, soll der Prophet Mohammed gesagt haben, dass „Abtrünnige geköpft werden müssen“. Diese Aussage wird von den Befürwortern der Todesstrafe besonders hervorgehoben:
„In diesem Hadith handelt es sich beispielsweise konkret um eine bestimmte Volksgruppe, die zunächst zum Islam übergetreten ist und später dann wieder aussteigen wollte. Mohammed ließ sie zunächst davonziehen.“
Zu Zeiten der Khalifen kam es sehr wohl zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit Gruppen, die sich vom Islam abgewandt haben. Mit deren Abfall vom Glauben habe das jedoch wenig zu tun, sagt Ismet Macit.
„Die Auseinandersetzungen waren zwischen Muslimen und Gruppen, die die politische Ordnung stürzen wollten. Es ging wieder nicht um die Religionsfreiheit. Um es zusammenzufassen: Auch die ersten Khalifen haben die Menschen nicht wegen der Abkehr vom Glauben hinrichten lassen.“
Eine weltliche Strafe für Abtrünnige widerspräche auch dem Prinzip der Glaubensfreiheit, welche im Koran zum Ausdruck kommt. In der längsten Sure im Koran heißt es: „Kein Zwang in der Religion“. Dazu Hakan Aydin, Dozent für islamische Theologie an der Universität Münster.
„Der Islam hat die Religionsfreiheit unter eine Garantie gestellt. Wenn wir einen Großteil des Korans betrachten, sehen wir, dass Allah in unterschiedlichen Versen, die Existenz mehrerer Religionen befürwortet. Der Vers 256 sticht dabei glasklar heraus.“
„Schuld eines Abtrünnigen neu definieren“
Andererseits sind jene Verse nicht zu übersehen, die in eine andere Richtung deuten – in eine Richtung, wie sie in den meisten islamischen Staaten praktiziert wird – nämlich die Richtung, dass es keine echte Glaubensfreiheit im Islam gibt.
„In diesen Versen geht es aber in erster Linie um Krieg. Deshalb muss man diese Stellen unbedingt in ihren Kontext einordnen und dementsprechend betrachten. Fest steht, dass an keiner Stelle im Koran von einer Strafe für Abtrünnige vom Islam die Rede ist.“
Nicht anders sieht es Ismet Macit, der Experte für islamisches Recht.
„Im Islam gibt es Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit. In der Sure Jonas im Koran heißt es: „Wenn Dein Gott wollte, würden alle auf der Erde an ihn glauben. Wirst also du sie zum Glauben zwingen?“ Das ist ein klares Bekenntnis zur Religionsfreiheit im Islam.“
Und doch gibt es nach wie vor Strömungen im Islam, die den Glauben gewaltbereit auslegen. Und es gibt Staaten, die unter Berufung auf islamisches Recht Abtrünnige ermorden lassen. Für Macit sind das Fehlentwicklungen, die Konsequenzen haben müssen:
„Die islamischen Gelehrten müssen dringend zusammen kommen, um über dieses Thema offen zu diskutieren. Der Straftatbestand der Apostasie, also der Abkehr von der Religion, muss erneut auf den Tisch. Wir müssen die Schuld eines Abtrünnigen neu definieren – das ist extrem wichtig.“
Erschienen im:Deutschlandfunk
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