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Türkei: Abschiebung in den Unrechtsstaat

Die Angst ist immer noch da. Rahman und Ayse Gün sind letztes Jahr aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet. Sie wähnten sich hier in Sicherheit. Bis vor zwei Wochen die Polizei auftauchte, um sie abzuschieben.

Rahman Gün: „Es klingelte, ich wusste nicht, wer das sein könnte. Ich habe die Tür einen Spalt aufgemacht. In dem Augenblick sind die Polizisten reingestürmt.

Ayse Gün: „Ich bekam eine Panikattacke. Ich habe doch nichts getan, womit ich das verdient hätte. Das ist ein großer Schock für mich. Nachts kann ich nicht mehr schlafen. Ich werde durch die Alpträume wach.“

Ayse Gün muss zur Behandlung in dieses Krankenhaus. Die Abschiebung wird abgebrochen. Als Anhänger der sogenannten Gülen-Bewegung, die Präsident Erdogan für den Putsch verantwortlich macht, muss die Familie in der Türkei Verfolgung fürchten. Trotzdem soll sie weiterhin abgeschoben werden. Dabei haben die Güns dem Bundesamt für Migration, kurz BAMF, Belege für ihre Gefährdung vorgelegt. Etwa, dass Rahmans Name 2018 in den Akten einer Gerichtsverhandlung gegen Gülenisten steht.

Rahman Gün: „Der Richter nannte meinen Namen. Das zeigt, dass gegen mich vorgegangen wird. Und es wird als ein terroristisches Verbrechen betrachtet, eine Gülen-Straftat, wenn man ein Konto bei der Bank Asya hat. Ich habe ein Konto bei der Bank Asya.“

Dass die Angst der Familie vor Verhaftung begründet ist, bestätigt sogar ein vertraulicher Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der MONITOR vorliegt. Darin heißt es, um strafrechtlich verfolgt zu werden, reichten

Zitat: „Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen“

oder

Zitat: „eine Geldeinlage bei der Bank Asya“

Doch das BAMF glaubt Familie Gün nicht. Stattdessen schickte es ihre Daten an die deutsche Botschaft in Ankara, um sie in der Türkei auf ihre Glaubwürdigkeit überprüfen zu lassen. Unverantwortlich findet der Asylrechtsexperte Dündar Kelloglu dieses Vorgehen. Doch mittlerweile gebe es ein strukturelles Misstrauen beim BAMF gegenüber türkischen Asylbewerbern und ihren Fluchtgründen, so der Anwalt.

Dündar Kelloglu, Rechtsanwalt für Asylrecht: „Egal, wie schlüssig, egal wie glaubhaft der Vortrag der Flüchtlinge sind, sagt das Bundesamt, wir glauben Ihnen nicht, wir müssen recherchieren, und die Akten werden dann oder wurden dann in die Türkei zur Recherche geschickt.“

Eine Praxis mit fatalen Folgen – wie jetzt bekannt wurde. Im September wurde in Ankara der Rechtsanwalt Yilmaz S. verhaftet. Er arbeitete auch als Kooperationsanwalt für die deutsche Botschaft in der Türkei. Im Zuge seiner Verhaftung fielen den türkischen Sicherheitsbehörden unzählige vertrauliche Datensätze von türkischen Flüchtlingen in Deutschland in die Hände. Türkische Medien sprechen mittlerweile von über 4.000. So wurde eine Praxis öffentlich, die bislang kaum jemand kannte. Deutsche Behörden übermitteln seit Jahren vertrauliche Daten von Asylbewerbern an Anwälte in der Türkei, um die Angaben dort in Datenbanken und bei Behörden überprüfen zu lassen. Die Betroffenen kann das zusätzlich in Gefahr bringen. Auch ihre Daten landeten auf diese Weise in den Händen der türkischen Sicherheitsbehörden. Leyla Birlik ist eine der prominentesten Erdogan-Kritikerinnen. 2016 saß sie drei Monate in Haft. Letztes Jahr flüchtete sie aus der Türkei nach Deutschland.

Leyla Birlik, ehem. Abgeordnete türkisches Parlament: „Alle Details über meinen Fluchtweg habe ich dem Bundesamt mitgeteilt. Viele persönlichen Informationen, Dinge über meine Familie, meine Freunde habe ich ihnen anvertraut. Das ist natürlich äußerst beängstigend. Denn jetzt ist all das in den Händen des türkischen Geheimdienstes.“

So ihre Befürchtung. Leyla Birlik gilt in der Türkei als Staatsfeindin und wird per Haftbefehl gesucht. Das lässt sich mit wenigen Klicks herausfinden. Trotzdem schickte das BAMF auch ihre Daten offenbar zur Überprüfung in die Türkei.

Sevim Dagdelen, (DIE LINKE), Bundestagsabgeordnete: „Ich halte diese Praxis für absolut zynisch und es ist auch ein Stück aus dem Tollhaus, dass der Täter, der Verfolgerstaat Türkei, hier als Kronzeuge gelten soll in einem Asylverfahren und bestätigen soll quasi, dass Menschen, die nach Deutschland kommen und Schutz suchen und Asyl beantragen, von diesem Staat verfolgt werden.“

Einem Staat, in dem bestimmte Gruppen auch drei Jahre nach dem Putschversuch systematisch unterdrückt oder verfolgt werden. Im August kommt es zu einem gewaltsamen Einsatz gegen kurdische Demonstranten in Diyarbakir. Und erst vor wenigen Tagen gehen Polizei und Sicherheitskräfte brutal gegen eine Frauendemonstration in Istanbul vor.

Sevim Dagdelen, (DIE LINKE), Bundestagsabgeordnete: „Also Menschen jetzt in dieses Regime auszuweisen, sie abzuschieben, heißt nichts anderes als sie dann quasi ans Messer zu liefern.“

Genau das droht jetzt auch ihm. Arif Yilmaz ist Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Er war Vorstandsmitglied der Partei in Istanbul. Drei Jahre saß er in Haft – nach einem Mammutprozess gegen mehr als 200 HDP-Politiker, die wegen ihrer politischen Aktivitäten als Terrorunterstützer kriminalisiert werden. 2018 erfuhr Yilmaz, dass ihm erneut eine Haftstrafe droht.

Arif Yilmaz: „Es gab eine Hausdurchsuchung. Man brach die Tür auf. Da ich nicht zu Hause war, wurde ich nicht verhaftet. Andere Freunde dagegen wurden inhaftiert. Ich habe mich eine Zeit lang versteckt. Über meine Anwälte habe ich erfahren, dass es gegen mich drei Haftbefehle gibt. Alle drei mit Geheimhaltungsbeschlüssen.“

Yilmaz flieht nach Deutschland. Und legt dem BAMF Beweise für seine Verfolgung vor. Asyl soll er trotzdem nicht bekommen. Nach Auffassung des Amtes

Zitat: „ist der Asylantrag nach dem bisher vorgebrachten vollumfänglich abzulehnen.”

Das BAMF wollte sich auf MONITOR-Anfrage zu diesem und anderen Fällen nicht konkret äußern. Man nehme die „Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden“ aber „sehr ernst“. Die Opposition hingegen vermutet auch politisches Kalkül.

Sevim Dagdelen, (DIE LINKE), Bundestagsabgeordnete: „Für mich hat das den Anschein, dass die Bundesregierung hier alles tut, um die Anerkennungsquote bei türkischen Asylantragstellungen runterzudrücken, um auch die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei weiter fortsetzen zu können, auch die geheimdienstliche. Dabei macht es sich nicht gut, wenn man hohe Asylantragszahlen aus der Türkei hat. Und es geht natürlich auch darum, Asylantragsteller abzuschrecken, dass es eben nicht so einfach ist, in Deutschland Asyl zu bekommen.“

Ein Vorwurf, den die Bundesregierung zurückweist. Doch warum schiebt Deutschland unter diesen Bedingungen in die Türkei ab? Politisches Asyl soll er nicht bekommen – und auch sie sollen weiterhin abgeschoben werden.

Ayse Gül: „Wir hatten seit Jahren Angst, dass die Polizei in der Türkei bei uns auftaucht. Aber dass das jetzt hier passiert, hat mich tief erschüttert.“

Erschienen in ARD Monitor