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Push Back von türkischen Oppositionellen in Griechenland

Ein gestrandetes Schlauchboot, eine Stoffpuppe. Relikte von Flucht und Verfolgung, Bilder aus einem militärischen Sperrgebiet. Der Evros ist die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland – und eine der Fluchtrouten nach Europa. Auch immer mehr Türken flüchten hier über den Fluss nach Griechenland. Doch selbst wer es durch die tückische Strömung auf die andere Seite schafft, ist längst nicht in Sicherheit.

Ayse Erdogan (Übersetzung Monitor): „Wir sind türkische, politische Asylsuchende. Wir sind aus der Türkei geflohen und haben den Evros am 4. Mai um 5:00 Uhr morgens überquert. Wir verstecken uns in der Nähe von Nea Vyssa, aus Angst vor einer illegalen Abschiebung. Wir flehen die Vereinten Nationen und die griechischen Behörden an, uns vor einem Push Back zu beschützen.“

Ein Hilferuf in Freiheit, per Handy geschickt an ihren Bruder. Ayse Erdogan arbeitete als Lehrerin. Wegen angeblicher Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung wurde sie 2016 zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Im Frühjahr – nach mehr als zwei Jahren Gefängnis – kam sie vorläufig frei. Aus Angst vor weiterer Verfolgung flüchtete sie Anfang Mai über den Evros. In der Grenzstadt Nea Vyssa wollte sie um Asyl bitten. Sie schien in Sicherheit. Ein Foto zeigt sie vor dem Bürgeramt. Doch danach verschwindet Ayse Erdogan plötzlich. Und taucht später hier wieder auf. In diesem Gefängnis in der Türkei, wo sie bis heute inhaftiert ist. Über sein Handy erreichen wir ihren Bruder Ishan. Auch er ist aus der Türkei geflohen und hatte in Griechenland auf seine Schwester gewartet – vergeblich.

Ishan (Übersetzung Monitor): „Sie wurde von der griechischen Polizei an maskierte Personen mit Knüppeln übergeben und mit einem Boot auf die türkische Seite gebracht. Jetzt ist sie im Gefängnis, wo es sehr schlimm ist. Zwölf, 13 Personen in einer Zelle.“

Beim griechischen Flüchtlingsrat kennt man diesen Fall. Klotilde Prountzou ist Rechtsanwältin und vertritt die Familie von Ayse Erdogan im Falle der illegalen Abschiebung.

Klotildi Prountzou, Rechtsanwältin, Greek Council for Refugees (Übersetzung Monitor): „Dieser Fall zeigt die unmittelbare Konsequenz, wenn türkische Flüchtlinge gewaltsam in die Türkei zurückgeschickt werden. Das direkte Ergebnis der Push Backs, der illegalen Abschiebung, ist, dass die meisten sofort in der Türkei inhaftiert werden.“

Und der Fall sei längst kein Einzelfall mehr, so die Anwältin. Immer mehr Flüchtlinge aus der Türkei würden Opfer der illegalen Abschiebepraxis.

Klotildi Prountzou, Rechtsanwältin, Greek Council for Refugees (Übersetzung Monitor): „Die Fälle haben in den letzten drei Monaten zugenommen. Und das ist ein deutlicher Wechsel für uns. Denn in der Vergangenheit gab es solche Berichte praktisch nicht. Die Regel war, dass türkische Flüchtlinge nicht zurückgeschickt wurden.“

Die gewaltsamen Abschiebungen belegen auch Berichte, die die Menschenrechtsorganisation gesammelt hat. Dutzende Fälle allein in den letzten Monaten, von Türken, aber auch Kurden. Rund 160 km lang ist die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland, fast immer am Fluss Evros entlang. Seit Jahren gibt es hier Berichte von Push Backs. Die betrafen aber vor allem Syrer oder Afghanen. Bei politischen Flüchtlingen aus der Türkei aber sind diese besonders dramatisch – denn auf der anderen Seite warten oft die, vor denen sie geflohen sind.

Auch sie erlebten so die schlimmsten Stunden ihres Lebens, wie sie uns erzählen. Er war Beamter, sie arbeitete als Journalistin, beiden drohte Gefängnis. Der Vorwurf: Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung. Obwohl sie schwanger war, entschlossen sie sich zur Flucht über den Evros. Diese gelang erst beim zweiten Versuch. Über das, was sie beim ersten Versuch erlebten, trauen sie sich erst jetzt zu sprechen.

Mann (Übersetzung Monitor): „Wir waren elf Leute und wurden von griechischen Polizisten in einen Kastenwagen gesperrt. Wir haben gedacht, dass sie uns zur Polizeiwache bringen. Das Fahrzeug drinnen war schlimm, Staub, Dreck, Essensreste und komplett ohne Fenster. Etwas später wurden wir alle aus dem Auto gezerrt, direkt am Evros-Ufer. Ein griechischer Polizist sagte in gebrochenem Türkisch, ihr seid hier ein großes Problem, ihr werdet wieder zurückgehen. Als wir uns widersetzten, sind aus dem Gebüsch vier oder fünf Männer herausgekommen. Ein, zwei von ihnen waren maskiert und hatten Knüppel in der Hand. Sie schrien uns an und begannen, mit Knüppeln auf uns einzuschlagen.

Frau (Übersetzung Monitor): „Es war eine verzweifelte Situation, wir haben gedacht, dass wir jetzt sterben werden. Ich habe mich auf meinen Mann geworfen, da sie ganz schlimm auf ihn eingeprügelt haben. Ich hatte Angst, dass meinem Baby im Bauch was zustößt. Bei einem anderen haben sie auf seinem Körper einen Schlagstock zerbrochen. Dann haben sie uns zum Boot gezerrt und brachten uns zurück über den Fluss.“

Es sind Erzählungen wie aus einer finsteren Diktatur. Und nicht aus einem EU-Staat.

Sevim Dagdelen (DIE LINKE), Bundestagsabgeordnete: „Diese Push Backs verstoßen nicht nur gegen die griechische Verfassung, die Genfer Flüchtlingskonvention, die europäische Menschenrechtskonvention, sondern auch gegen die Grundrechtecharta der UNO.“

Doch was passiert hier genau? Wir sind unterwegs im Grenzgebiet. Direkt neben der Straße das Sperrgebiet. Eine der bestgesicherten Außengrenzen der EU. Auch europäische Grenzschützer von Frontex sind hier unterwegs. In Orestiada, einer Gemeinde an der Grenze treffen wir Nikolaos Ouzounidis. Er arbeitet hier als Anwalt und erfährt oft als erster von Festnahmen oder drohenden Push Backs türkischer Flüchtlinge. Er zeigt uns eine Nachricht, die er wenige Tage zuvor von einer Gruppe türkischer Fluchtlinge bekommen hatte. Sie hatten den Evros überquert und baten ihn um Hilfe. Die Gruppe sei jetzt in Sicherheit. Doch in anderen Fällen kämen er und seine Kollegen zu spät.

Nikolaos Ouzounidis, Rechtsanwalt (Übersetzung Monitor): „Diese Leute werden versteckt. Ich weiß nicht, wo. Sie lassen keinen Anwalt zu ihnen. Und plötzlich, am nächsten Tag, müssen wir feststellen, dass die Leute in der Türkei sind. Das ist extrem merkwürdig.“

Illegale Abschiebungen zurück in ein Land, in dem Gegner des Regimes noch immer brutal verfolgt werden. Im März kommt es zu einem gewaltsamen Einsatz gegen kurdische Demonstranten, Anfang Mai gehen Polizei und Sicherheitskräfte in Ankara brutal gegen protestierende Studenten vor und im Juni in Istanbul gegen Teilnehmer einer Lesben- und Schwulenparade. Die kurdische Oppositionspolitikerin Leyla Birlik flüchtete letztes Jahr über den Evros – vor den Push Backs. Sie ist eine der prominentesten Erdogan-Kritikerinnen. 2016 saß sie drei Monate in Haft. Seitdem habe sich die Lage in ihrer Heimat weiter verschlechtert.

Leyla Birlik, Ehem. Abgeordnete türkisches Parlament (Übersetzung Monitor): „Wir reden hier über ein Land, in dem Hunderte Journalisten in Haft sitzen, ein Land, in dem ehemalige Abgeordnete sich vor Gericht verantworten müssen. Die Lage der überfüllten Gefängnisse zeigt, dass die Gewalt ungebremst weitergeht. Das ist der wesentliche Grund für die Flucht.“

Und die Zahl der Flüchtenden steigt. Im Jahr 2013 stellten gerade mal 17 türkische Staatsbürger einen Asylantrag in Griechenland. Im letzten Jahr waren es fast 5.000. Die steigenden Zahlen: Grund für eine neue griechische Abschiebestrategie? Die könnte auch etwas mit diesem Treffen zu tun haben, letzten Februar. Staatsbesuch des damaligen griechischen Premiers Tsipras beim türkischen Präsidenten. Und der macht eines unmissverständlich klar.

Recep Tayyip Erdoğan, Staatspräsident Türkei (Übersetzung Monitor): „Es ist unsere Erwartung, dass Griechenland zu keinem sicherem Zufluchtsort für Terrororganisationen wie Gülen, PKK und andere wird. Bei unseren Gesprächen haben wir den griechischen Freunden unseren Wunsch zum Ausdruck gebracht, die Gülen-Putschisten zurückzubringen.“

Gab es danach einen Deal? Auffällig ist, seit April ist Griechenland offenbar kein sicherer Ort mehr für politische Flüchtlinge aus der Türkei. Konfrontiert mit unseren Recherchen vom Evros, bekommen wir von der griechischen Regierung keine Antwort. Bei der europäischen Grenzschutzagentur Frontex weiß man zwar von den illegalen Abschiebungen. Beamte vor Ort hätten davon direkt aber nichts mitbekommen, teilt man uns mit. Man wolle dem nachgehen. Ähnlich die EU-Kommission. Auf Nachfrage heißt es, man sei

Zitat: „besorgt über die Berichte von Misshandlungen“

und erwarte

Zitat: „dass die griechischen Behörden den Vorwürfen nachgehen.“

Die EU selbst will aber nichts unternehmen.

Sevim Dagdelen (DIE LINKE), Bundestagsabgeordnete: „Die europäische Kommission ist hier mitverantwortlich dafür, was in einem europäischen Mitgliedsland wie Griechenland stattfindet, nämlich offensichtlich Rechtsverstöße an der griechisch-türkischen Grenze unter den Augen der eigenen Grenzschutzagentur Frontex, die diese Rechtsverstöße unterbinden müsste laut ihrer Aufgabenstellung. Das macht sie aber nicht, weil letztendlich die griechischen Behörden nichts anderes tun, als den politischen Willen der Europäischen Union hier umzusetzen, nämlich Abwehr und Abschreckung gegenüber Flüchtlingen.“

Endstation Evros. Hier verstößt Europa nicht nur gegen seine Werte, sondern auch gegen seine eigenen Gesetze.

Erschienen im ARD Monitor