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Gergerlioglu: “Nicht damit gerechnet, dass Erdogan seinen Racheakt auch auf Andere ausweiten würde“

Gespräch über die Lage der Menschenrechte in der Türkei

Als ein mehrheitlich muslimisches Land mit einer konservativen, aber Reform-orientierten AKP-Regierung, galt die Türkei viele Jahre als wichtiger Beitrittskandidat in die Europäischen Union, als ein Hoffnungsschimmer für den Nahen Osten, ja, für die gesamte islamische Welt. Doch seit einigen Jahren steht die Türkei aufgrund schwerer Menschenrechtsverstöße im Fokus internationaler Berichterstattung. Renommierte Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch läuten seit Jahren die Alarmglocken. Entführungen, Folter und Vergewaltigung von Zivilisten. Wörter, die man eigentlich mit undemokratischen Diktaturen in Verbindung bringt. Ein Beitrag nach einem Gespräch mit Ömer Faruk Gergerlioglu.

von Hüseyin Topel

Ende 2018 entstand unter der Leitung des gemeinnützigen Recherchenetzwerks Correctiv eine gemeinsame Publikation von neun internationalen Medienpartnern. Diese umfangreiche und akribisch durchgeführte Recherche wurde „Black Sites Turkey“ genannt. Der Bericht legte offen, dass die türkische Regierung politische Gegner aus dem Ausland entführt und foltert. 13 Journalisten interviewten Betroffene, ihre Recherchen bestätigten die Aussagen der Gefolterten. Seit Jahren hat die AKP Regierung die Türkei in ein Land verwandelt, in dem Journalisten nicht mehr ohne Weiteres recherchieren können. Dies stellte der Fall Deniz Yücel eindrucksvoll unter Beweis.

Zehntausende Oppositionelle in Haft

Oppositionelle wie der siebzig Jährige Journalist Ahmet Altan, Kulturmäzen Osman Kavala oder Selahattin Demirtas sitzen derzeit in türkischer Untersuchungshaft. Letzterer, seit 2016 wegen angeblich terroristischer Aktivitäten verhaftet, ist der ehemalige Co-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert seit 2018 seine Freilassung. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wirft dem EuGH deshalb Unterstützung eines Terroristen vor. 

In der HDP sieht er den verlängerten Arm der Terrororganisation PKK. Die HDP selbst verneint das. Doch vereinzelte Politiker der Partei distanzieren sich nicht in ausreichendem Maße von der PKK und nahmen in der Vergangenheit Teil an Beerdigungen von PKK-Guerillas. Deshalb ist der Druck auf Politiker der HDP derzeit sehr groß, wie auch auch der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu bestätigen kann.

“Die AKP Fraktionsvorsitzende Özlem Zengin hat gesagt, “Gergerlioglu terrorisiert dieses Parlament”. Ich berichte seit zweieinhalb Jahren von diesem Rednerpult nur von den Menschenrechtsverstößen. Anscheinend hat das einige gestört. … Und ich habe recht, deshalb bin ich stark. Weil ich stark bin, habe ich keine Angst. Ich bin ein gottesfürchtiger Mann, eine andere Furcht kenne ich nicht“.

Gergerlioglu ein Menschenrechtsverteidiger

Ömer Faruk Gergerlioglu ist Menschenrechtsaktivist und praktizierender Muslim. Der 56 jährige Arzt und Familienvater wurde im Zuge des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wie Zehntausende per Dekret von seinem Beruf suspendiert. Durch seinen Einsatz für Menschenrechte ist er vielen ein Dorn im Auge. Noch im Januar wurde aufgrund eines Tweets aus dem Jahre 2019 zum wiederholten Male eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet.

„Ich wurde für meinen Einsatz für Menschenrechte schon immer angefeindet. Weil ich mich als ein Türke für die Rechte der Kurden einsetze, wurde ich als ein PKK-Mitglied denunziert.“

Als Menschenrechtsverteidiger im Parlament ist Gergerlioglu auf weiter Strecke alleine. Der Politiker sieht in seiner Bevölkerung große Demokratiedefizite.

„Demokratie und Freiheiten wurden in der Türkei nicht mit einem Kampf dafür erlangt. Das wurde von oben herunter diktiert. Die Bevölkerung ist eher hierarchisch eingestellt ist. Ein Volk, dass unter einem Sultan gelebt hat, wo der Vater immer das letzte Wort hat.“

Die Suche nach einem Anführer

Deshalb strebe die Bevölkerung stets einem starken Anführer und nicht etwa nach einem politischen System. Daraus resultiere ein Lagerdenken in der Türkei. 

“Das islamische Milieu, aber auch alle anderen Fraktionen und politischen Lager waren stets nur für die eigene Gemeinschaft demokratisch. Sowohl die Rechten als auch die Linken wollten immer die Macht für sich beanspruchen. Dann, wenn eine dieser Positionen etwas vorangeschritten war, kam der Staat und putschte selbst. Das war schon immer so.”

Tatsächlich ist die 1923 gegründete türkische Republik von fünf gewaltsamen Eingriffen des Militärs gebrandmarkt. “Um die Unversehrtheit der nationalen Grenzen zu bewahren”, hieß es bei den Putschen in den Jahren 1960, 1971, 1980, 1997 und letztlich 2016. Diesen letzten militärischen Aufstand konnte Staatspräsident Erdogan mit Hilfe der Bevölkerung im Keim ersticken. Die Regierung machte sofort die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den gescheiterten Putschversuch verantwortlich. Mit dieser Ansicht ist Erdogan nicht alleine, so Gergerlioglu.

Gergerlioglu: „Darüber herrscht in der Türkei Konsens“

“Darüber herrscht in der Türkei ein breiter Konsens. Zwar haben die Gülenisten dies stets abgelehnt und behauptet, dass auch andere Gruppen an dem Aufstand beteiligt waren. Nichtsdestotrotz hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass der Putsch die Folge eines Machtgerangels zwischen der AKP-Regierung und der Gülen-Bewegung gewesen ist. Schließlich gab es einen offenen Streit.”

Dabei galten die AKP und die Gülen-Bewegung lange Jahre als engste Verbündete. Politisch und islamisch blickten sie viele Jahre in dieselbe Richtung. Mit den Wahlerfolgen der AKP wuchs auch der Einfluss der Gülen-Bewegung im Land. Ab 2013 wurden die AKP und die Gülen-Bewegung jedoch zu politischen Gegnern. Die AKP versuchte die Einrichtungen der Gülenisten zu schließen, die Gülenisten hingegen wollten den Sturz der Regierung forcieren. Der Putschversuch, so Gergerlioglu, war die Folge dieses Machtkampfes. Unmittelbar danach hat Erdogan den Ausnahmezustand ausgerufen und einen Rachefeldzug gegen die Gülen-Bewegung losgetreten.

“Er wollte die Gülen-Bewegung beseitigen, vollständig zerschlagen. Stellen Sie sich vor, selbst 5 Jahre nach danach werden immer noch Menschen in Zusammenhang mit der Gülen-Bewegung verhaftet. Erdogan geht mit großen Hass gegen diese Gruppierung vor.”

Sollen Sie einander die Köpfe einschlagen

Anfangs hätten Außenstehende die Augen vor Erdogans Rache verschlossen. Getreu dem Motto: Sollen sie ruhig einander die Köpfe einschlagen. Für den Menschenrechtsverteidiger fatal.

“Sie haben nicht damit gerechnet, dass Erdogan seinen Racheakt auch auf andere Gruppen ausweiten würde. Er kam der Reihe nach zu den Kurden, zu den Demokraten, zu den Liberalen, zu den Armeniern, zu den Aleviten. Für Erdogan war das eine einmalige Gelegenheit.”

Ömer Faruk Gergerlioglu verteidigt auch die Rechte von mutmaßlichen sowie tatsächlichen Gülenisten. Dafür wird er kritisiert, ja, sogar als Gülenist abgestempelt. Ende Dezember vergangenen Jahres bezeichnete der türkische Innenminister Süleyman Soylu Gergerlioglu sogar einen “abgenutzten, wertlosen Gülen-Terroristen”. Doch vor dem unverhältnismäßigen Zorn des Präsidenten gegen diese Gruppierung könne er nicht die Augen verschließen.

600.000 Untersuchungen, 300.000 Festnahmen, 100.000 Verhaftungen

“Gegen die Gülenisten wurden im Ausnahmezustand 600.000 Untersuchungen eröffnet, 300.000 Festnahmen und 100.000 Verhaftungen ausgeführt, wohingegen diese Zahl sich bei den Kurden auf 20.000 Untersuchungen und 10.000 Verhaftungen beläuft. Ganz egal, gegen wen sich dieser Vorgang richtet. Das ist schrecklich. Das zeigt, dass die Regierung diese Gruppe vollständig vernichten will. Das ist ein politisches Gemetzel. Ob dabei Menschenrechtsverletzungen passieren ist der Regierung ehrlich gesagt ziemlich gleichgültig.”

In der Geschichte der Türkei seien immer wieder gewisse Gruppen ähnlich verteufelt worden. Auch Erdogan sehe sich beispielsweise als ein Opfer der Laizisten, weil er eine islamisch-konservative Person ist. Im Westen gilt Erdogan sogar als ein Islamist. Dass findet Gergerlioglu falsch.

“Man kann Erdogan wirklich nicht als einen Islamisten bezeichnen. Erdogan war von Anfang an auf Macht fixiert. Islamische Werte wie Moral, Gewissen, ob man sie mag oder nicht, sind für Erdogan allenfalls pragmatische Instrumente.”

Milli Görüs hatte ganz andere Ziele als Erdogan

Erdogans alte Schule ist die auch in Deutschland bekannte die Milli Görüs Bewegung. Diese hatte ganz andere Ziele, so Gergerlioglu.

“Milli Görüs Gründer Necmettin Erbakan wollte die aus islamischer Sicht verbotenen Zinsen, und Prostitution abschaffen und ein islamisches System errichten. Man muss hier einmal klarstellen, dass Erdogan die AKP gegründet hat, in dem er sich von der Milli Görüs Bewegung und ihren Idealen gelöst hat. Einige seiner islamischen Ideale, beispielsweise die Freiheit für das Kopftuch oder die Gleichstellung der Imam Hatip Religionsschulen mit den normalen staatlichen Schulen hat Erdogan bewusst beibehalten.”

Damit habe er auch sich auch in der islamischen Community beliebt gemacht.

Atheismus und Deismus gewinnt an Zuwachs

“Doch gleichzeitig hat Erdogan ein Zinssystem etabliert und hegt beste Beziehungen zu den großen Kapitalisten. Er hat keinerlei Skrupel vor Korruption und Vetternwirtschaft. Auch hat er keine Probleme vor schweren Verstößen gegen Menschenrechte.”

Die Menschen würden das nach und nach erkennen. 

“Erdogan hat in dieser Bevölkerung eine große moralische Degeneration verursacht. Er hat sich als angeblich islamischen Leader präsentiert, aber Stand jetzt führt er dazu, dass der Atheismus und Deismus in der Bevölkerung an Zuwachs gewinnt. Ja, der Islam ist mit Symbolen sichtbarer geworden, doch es fehlt die islamische Seele. Die Menschen sehen diese Wiedersprüche. Sind das Taten, die eine islamische Person auszeichnen?”

Erschienen im Deutschlandfunk